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Der 15. August und seine heutige Bedeutung

Nach langer Vorbereitung im Libanon nahm die PKK heute vor genau 40 Jahren – am 15.08.1984- den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat auf. Der 29. Kurdische Aufstand in der Geschichte des türkischen Staates hält bis heute an und hat sich längst auf alle vier Teile Kurdistans ausgebreitet. Die Revolution in Rojava, der Sieg über sogenannten Islamischen Staat und die Demokratische Selbstverwaltung, die mittlerweile knapp ein Drittel Syriens kontrolliert, sind die Früchte dieses 29. Aufstands. Auch wenn der Bewaffnete Kampf in Bakur (Nordkurdistan / “Südtürkei”) begann und sich lange auf diesen teil Kurdistans fokussierte, gewann er dennoch auch tiefgreifenden Einfluß auf die Bevölkerung Rojavas (Westkurdistan / “Nordsyrien”). 

Eine (sehr) kurze Vorgeschichte 

Nachdem Kurdistan 1923 durch den Lausanner Vertrag auf die Nationalstaaten Türkei, Iran, Irak und Syrien aufgeteilt wurde, war die kurdische Bevölkerung in allen vier Teilen schwerer Assimilation ausgesetzt. Fortan wurde die kurdische Identität geleugnet. Am prägnantesten fasste wohl Kemal Atatürk diese Praxis mit seinem berühmten Satz “Ein Land (die Türkei), eine Fahne (die türkische), eine Nation (die Türk:innen), eine Sprache (türkisch), ein Staat (den türkischen)“ zusammen. Für das kurdische Volk und all die anderen Nationen auf dem Gebiet des neu geborenen türkischen Staates war dieser Logik nach kein Platz. 

Auch die syrischen Machthaber erklärten das „Arabischsein” zum verbindenden Element aller in Syrien lebenden Menschen. Mit der Machtübernahme von Hafez al-Assad 1970 und der durch die Baath Partei propagierten Ideologie des Pan-Arabismus, erhöhte sich der Druck auf die kurdische Bevölkerung ein weiteres Mal. Beispiele für anti-kurdische Maßnahmen zu dieser Zeit sind zum Beispiel die Errichtung eines “Arabischen Gürtels” in Rojava, also die künstliche Ansiedlung von Araber:innen in die kurdischen Gebiete, um das Ausleben der kurdischer Identität zu verhindern. Auch die Praxis, der gesamten kurdischen Bevölkerung die Staatsbürgerschaft zu verweigern und ihnen lediglich einen “Flüchtlingstatus” auf ihrem eigenen Land zu gewähren, sind angewandt worden. So sollten sämtliche Aufstiegschancen und Möglichkeiten auf Mitbestimmung für Kurd:innen bereits im Vorhinein zertrümmert werden.

Ohne den von der PKK angeführten Widerstand gäbe es heutzutage wahrscheinlich gar kein kurdisches Bewusstsein mehr, weder in Bakûr noch in Rojava. Der Ko-Vorsitzende des Exekutivkomitees der KCK (Koma Civakên Kurdistan) und Gründungsmitglied der PKK, Cemil Bayik, beschreibt den historischen Kontext der offensive dementsprechend wie folgt: 
“Dieser Schuss musste fallen, weil das kurdische Volk von der Auslöschung bedroht war. Niemand wusste mehr so recht, ob es die Kurden eigentlich noch gibt. Die Menschen befanden sich in einer Art Todesschlaf und dieser Situation musste ein Ende gesetzt werden.”. 
Allein hier sieht man, wie essentiell der Beginn des Guerilla-Kampfs für Kurdistan im Allgemeinen und Rojava im Besonderen war, denn ohne ihn hätte es 2012 kein kurdisches Volk mit sehr erfahrenen Guerilla-Einheiten gegeben, welche die Rolle als Wegbereiter und Vorreiter der Rojava-Revolution einnehmen könnte. 

Die Offensive des 15 August 

Die Offensive des 15 August selber bestand aus zwei Angriffen auf die Städte Dih (tr. Eruh) – unter der Führung von Kommandant Egîd- und Şemzînan (tr. Şemdinli) unter dem Kommando von Gözlüklü Ali. Im Fokus dieser Aktionen stand nicht der rein militärische, sondern auch der propagandistische Erfolg. Man sprach auch von “Bewaffneten Propaganda Einheiten“, ein Konzept, das auch von zahlreichen anderen revolutionären Gruppen wie der IRA in Irland, den Tupamaros in Uruguay oder der RAF in Deutschland verwendet wurde. So wurden bei der nur 29 Kämpfer starken Gruppe von Kommandant Egîd allein sechs von ihnen für reine Propaganda-Arbeiten beim Kleben von Plakaten und dem Vorlesen des Flugblattes über die Lautsprecher der Moschee vorgesehen. Die Kämpfer blieben von Beginn des Angriffs -um ca. 21 Uhr- bis Mitternacht in der Stadt und konnten sich ohne Verluste und mit zahlreichen erbeuteten Waffen zurückziehen. Die Kämpfer bewiesen an jenem Tag, dass das kurdische Volk noch nicht besiegt und der türkische Kolonialherr verwundbar ist. Frantz Fanon schreibt in seinem Buch “Die Verdammten dieser Erde” folgendes: 
“Wenn der Kolonisierte einen Kolonialisten tötet, tötet er zwei Personen: den Unterdrücker und den Unterdrückten, den er in sich selbst unterdrückt hat. (…) was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch.“ 
An diesem Tag töten die bewaffneten Propaganda-Einheiten in erster Linie die Angst des kurdischen Volkes vor ihren Kolonialherren.

Auswirkungen auf Rojava 

Die revolutionäre Bewegung war bereits lange vor dem 15. August in Rojava aktiv. Doch die Offensive bahnte den Weg für einen großen Sprung in der Qualität und Quantität der Arbeiten. Der Geist der Offensive beflügelte große Teile der Bevölkerung. Schnell wurde die PKK zur stärksten politischen Kraft in der Region und begann mit beachtlichem Erfolg das gesellschaftliche Leben umzugestalten. Das 1999, 13 Jahre vor der Revolution, Erschienene Buch “Licht am Horizont”  stellt bereits folgendes fest:
“Prozentual gesehen hat die Partei die stärkste Basis im ‚Kleinen Süden‘, in Syrisch-Kurdistan”. 
Ohne diese jahrelange, durch den 15. August vorangetriebene gesellschaftliche Arbeit und Organisation, wäre eine Revolution undenkbar gewesen. Anfangs lag der Fokus der Arbeiten in Rojava noch auf der Unterstützung des Guerillakampfs in Bakûr und Başûr (Süd-Türkei / Nord-Irak), weil aufgrund der quantitativ geringen Zahl an Kurden:innen in Rojava davon ausgegangen wurde, die Revolution würde dort zuletzt ausbrechen. Ayşe Efendi, ehmalige Ko-Vorsitzende der PYD in Kobanê, äußert sich in einem Interview, das im Buch “Rojava: Peopels in Arms” abgedruckt wurde, zu diesem Thema wie folgt: 
“At that time, we were thinking that Bakur , where there are 20 million Kurds, would have a large uprising which we would join. We were supporting each other, but we were expecting what happened in Rojava to happen in Bakur, because there are only 4 million Kurds here. Of course, we were not anticipating the Arab Spring, where so many people would rise up.” 
In ihren Bemühungen, den bewaffneten Kampf zu unterstützen, sammelten die Menschen in Rojava unter anderem Essen, Geld und Materialien. Ein Beispiel hierfür kann man wunderbar in “Licht am Horizont” nachlesen: “Einmal im Jahr gibt es die Linsenernte. Die Partei hat größere Felder gepachtet. Zur Erntezeit wird nun ein Tag festgelegt, an dem die Bevölkerung zusammengerufen wird. Dann begeben sich alle, ob Arzt, Taxifahrer oder Hausfrau, gemeinsam zu den Feldern, um die Linsenernte einzubringen. Auch andere Arbeiten für die Partei werden ähnlich organisiert.”

Zahlreiche Jugendliche und junge Erwachsene aus Rojava schlossen sich zudem direkt dem Guerillakampf in den Bergen an. Viele von ihnen wie Şehîd Xebat Dêrik, einer der wichtigsten Schlüsselfiguren im Aufbau der YPG, oder Heval Mazlum, Generalkommandant der SDF, kamen zu Beginn der Revolution von den Bergen zurück nach Rojava, um den Aufstand zu unterstützen. Die Verteidigung Kobanês, der Kampf gegen Daesh, all das wäre ohne die vielen PKK Kader:innen, viele von ihnen ursprünglich aus Rojava, nicht möglich gewesen. 

Kurzum : Der 15. August legte den Nährboden, auf dem 28 Jahre später die Rojava Revolution erblühen sollte. Ohne den durch die Offensive ausgelösten Sprung in der Organisation, ideologischen Tiefe und militärischen Professionalisierung der Bevölkerung Rojavas, hätte jetzt vermutlich nicht die Selbstverwaltung, sondern der syrische Staat oder der Islamische Staat die Kontrolle über Nord und Ost Syrien. 

Aus 72 Stunden wurden 40 Jahre 

Unmittelbar nach der erfolgreichen Offensive verkündete der General des Militärputsches von 1980 und damalige Präsident der Türkei, Kenan Evren, man würde die “Plünderer” und “Terroristen” hinter den Angriffen innerhalb von 72 Stunden finden und erledigen. Heute, 40 Jahre später, ist dem türkischen Staat nicht gelungen, die Guerilla zu liquidieren. Die Realität Kurdistans wurde in diesen 40 Jahren in nahezu allen Aspekten grundlegend verändert. Nur eine Sache ist immer noch genau gleich wie vor 40 Jahren. Noch immer verkündet der gerade amtierende türkische Präsident, dass die Vernichtung des kurdischen Widerstands zeitnah umgesetzt wird.  Der Widerstand der letzten 40 Jahre zeichnet ein anderes Bild. Die revolutionären Kräfte sind immer noch am Kämpfen, und entwickeln sich weiter. In jedem und jeder Einzelnen von ihnen, in allen Revolutionär:innen vor Ort, pulsiert noch heute der Geist des 15. Augusts.