Du betrachtest gerade Der Gewinn der syrischen Völker

Der Gewinn der syrischen Völker

Zum Abkommen zwischen der syrischen Übergangsregierung und der Autonomieverwaltung Nord-und Ostsyrien, welches am 10.3. unterzeichnet wurde, widmete die revolutionäre Wochenzeitung ATILIM ihren Leitartikel vom 14.03.2025.

Folgend der ins Deutsche übersetzte Artikel.

14. März 2025, Freitag

ATILIM 

Das Massaker an den Alawit:innen, das in der ersten Märzwoche in den syrischen Provinzen Latakia und Tartus unter dem Vorwand der „Beseitigung der Überreste des Regimes“ verübt wurde, war ein Versuch und der Beginn eines Völkermords. Mit Unterstützung und Zusammenarbeit der Türkei zielten die HTS- und SNA-Banden darauf ab, einen alawitischen Selbstverteidigungsaufstand im Keim zu ersticken und schon vor seinem Beginn zu zerschlagen. Die Schuldigen und Verantwortlichen dieses Massakers sind bekannt. Dass die HTS, anstatt das alawitische Massaker zu verhindern, selbst der Hauptdrahtzieher war, zeigte auf dramatische Art und Weise, dass es für die HTS unmöglich ist, eine Regierung zu schaffen, die allen syrischen Völkern ein friedliches Zusammenleben ermöglicht und ihre Existenz sowie Rechte respektiert. Doch das Massaker an den Alawit:innen stärkte die von der HTS geführte Provisorische Syrische Verwaltung nicht; im Gegenteil, es schwächte sie politisch und diplomatisch, stellte ihre ohnehin kaum vorhandene Legitimität infrage und weckte das Misstrauen der syrischen Völker.

Unter diesen Umständen wurde am 10. März ein 8-Punkte-„Abkommen“ zwischen den Demokratischen Syrischen Kräften (QSD) und der Syrischen Übergangsregierung bekannt gegeben. Beide Seiten gaben eine Grundsatzerklärung zu den Themen und Problemen ab, auf die sie sich geeinigt hatten. Dieses Abkommen könnte auch als Prinzipienvereinbarung oder Vorabkommen bezeichnet werden. Dass das Abkommen schnell zum bedeutendsten Thema der internationalen Agenda in Bezug auf Syrien wurde, ist ein wichtiger Indikator für seine Bedeutung.

Die Begegnung zwischen den Syrisch Demokratischen Kräften und der syrischen Übergangsregierung, die gleichwertige und verbindliche Unterschrift der QSD und ihrem Kommandanten Mazlum Abdi sowie der Inhalt des Abkommens sind angesichts der offiziellen Anerkennung der Realität Nord- und Ostsyriens ein bedeutender Gewinn an sich. Auch wenn das Abkommen keinen Status für Rojava-Nord- und Ostsyrien definiert, sollte die politische Anerkennung Nord- und Ostsyriens als großer politischer und diplomatischer Erfolg gewürdigt werden.

Das Abkommen stellt eine wichtige historische Schwelle für die Möglichkeit dar, ein neues Syrien zu schaffen. Denn die Rojava-Revolution ist mit ihrer ganzen Realität Vertragspartei des Abkommens. Der erste Punkt des Abkommens ist in dieser Hinsicht besonders bedeutsam: „Gewährleistung des Rechts aller Syrerinnen und Syrer auf Vertretung und Teilnahme am politischen Prozess und an allen staatlichen Institutionen auf der Grundlage ihrer Kompetenz, unabhängig von religiöser und ethnischer Herkunft..“ Die Anerkennung der Existenz und Rechte aller Glaubens- und Nationalgemeinschaften – Christen, Alawiten, Drusen, Syrer, Chaldäer, Armenier, Kurden, Turkmenen – ist das Prinzip, das zu einem demokratischen Syrien führt. Die demokratischen Werte der Rojava-Revolution breiten sich durch dieses Abkommen auf ganz Syrien aus. Aus dieser Perspektive betrachtet, gelten die SDF als Vertreter des syrischen Volkes gegenüber der von den HTS-Banden geführte syrische Übergangsregierung. Die SDF wird durch die Entwicklungen in Syrien und als Trägerin der Errungenschaften der Rojava-Revolution in diese historische Position gedrängt.

Dass die QSD das Vertrauen der syrischen Völker gewinnt, ist für die Zukunft Syriens äußerst wertvoll. Es zeigt, dass sich das Bündnis zwischen Kurd:innen und Araber:innen, welches in Nord- und Ostsyrien geboren wurde, auf ganz Syrien ausbreitet. Diese Entwicklung macht sich sowohl in breiten Schichten der syrischen arabischen Bevölkerung breit, die kein Scharia-Regime wollen, als auch in den Reihen der Christen, Alawiten, Drusen, Assyrer, Chaldäer und Armenier. Dass die SDF vor dem Abkommen mit Alawit:innen, Christ:innen und Drus:innen sprach und ihre Forderungen aufnahm, ist für das Vertrauen und die demokratische Zusammenarbeit zwischen den Völkern von großer Bedeutung.

Das Abkommen bestätigt, dass ihre Verhandlungspartner die SDF als Vertretung des kurdischen Volkes akzeptieren, mit dem Artikel, “Anerkennung der kurdischen Bevölkerungsgruppe als indigene Bevölkerungsgruppe des syrischen Staates, der ihr Recht auf Staatsbürgerschaft und alle verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten garantiert.“. Dass die KDP das Abkommen unterstützt, obwohl die ENKS ausgeschlossen wurde, ist ebenfalls bemerkenswert. Damit wurde auch die negative Rolle der ENKS, die seit Beginn der Rojava-Revolution eine reaktionäre Haltung einnahm, neutralisiert.

Die Verwaltung Nord- und Ostsyriens hat von Anfang an erklärt, für die Einheit Syriens zu sein. Auch nach dem Sturz des Assad-Regimes setzte sie ihre Linie fort, diskutierte weiterhin mit der syrischen Übergangsverwaltung über die Probleme und suchte nach Lösungen. Die Integration der SDF bzw. Nord- und Ostsyriens in Syrien ist kein neues Thema. Die Aussage von Salih Muslim, dass „wir mit diesem Abkommen nun Partner des syrischen Staates sind“, spiegelt wider, dass sich die Parteien grundsätzlich auf eine „Integration“ geeinigt haben. Mit anderen Worten wird betont, dass man sich darauf geeinigt habe, „Partner des Staates“ zu sein.

Wenn zwischen zwei „Parteien“ ein Abkommen, eine Übereinkunft oder eine Einigung erzielt wird, bedeutet das, dass beide Seiten ein „Bedürfnis“ danach haben. Jede Partei kann versuchen, unterschiedliche Bedürfnisse zu erfüllen, aber es kann auch „übereinstimmende“ Interessen geben. Die Parteien nähern sich einander an, hören jedoch nicht auf, „Parteien“ zu sein. Dies gilt auch für das Abkommen zwischen den Syrisch Demokratischen Kräften und der Syrischen Übergangsregierung es wäre nicht falsch festzustellen, dass die Gesamtheit der Punkte und der Charakter des Abkommens von der Position, den Forderungen und Werten der SDF geprägt sind.

Es wurde beschlossen, dass für jeden Punkt des Abkommens ein Komitee gebildet wird, um innerhalb eines Jahres an der praktischen Umsetzung zu arbeiten. Dies bedeutet, dass der „Kampf“ fortgesetzt wird und Anstrengungen unternommen werden, um die vorläufigen Vereinbarungen oder festgelegten prinzipiellen Positionen zu konkretisieren. Damit dieser Prozess gesund verläuft, müssen die revolutionären Kräfte ihre Beziehungen zu ihren Verhandlungspartnern so gestalten, als würden sie einem echten Feind im Auge behalten[a]. Insbesondere der in Punkt 6 festgelegte Aspekt „Unterstützung des syrischen Staates in seinem Kampf gegen die Überreste des Assad-Regimes und alle Bedrohungen seiner Sicherheit und Einheit.“ spiegelt den Druck wider, der auf der von HTS geführten syrischen Übergangsregierung lastet und nimmt die SDF in die Verantwortung. 

Angesichts der salafistischen Wurzeln der HTS, die die Scharia unterstützen, ihrer volksfeindlichen Haltung und ihres Versuches, das gestern stattgefundene Massaker an den Alawit:innen mit dem Vorwand des Kampfes gegen „Assad-Anhänger“ und aus Gründen der „Sicherheit“ zu rechtfertigen, muss betont werden, dass die revolutionären Kräfte bei der Umsetzung dieses Artikels höchste politische Wachsamkeit an den Tag legen müssen.

Die durch das Abkommen entstandene Situation, die Garanten des Abkommens und der Punkt „Waffenstillstand in allen Gebieten Syriens“ deuten darauf hin, dass es für das faschistische Chefregime (gemeint ist der türkische Staat) nun schwieriger sein wird, in Rojava einzugreifen. Die imperialistischen Garantenstaaten, die die Seiten zur Einigung gedrängt haben, verfolgen natürlich ihre eigenen Interessen in der Region. Der Einfluss des faschistischen türkischem Regimes auf die HTS ist zweifellos nicht zu unterschätzen, aber dieses Abkommen zeigt, dass er nicht so groß ist, wie es durch Wahrnehmungsmanagement-Operationen aufgebauscht wurde. Während Saudi-Arabien, Jordanien, Kuwait und andere Länder ohne  ein Zögern ihre Zufriedenheit und Unterstützung für das Abkommen erklärten, ist die Betonung des faschistischen Präsidenten Erdoğans auf die „vollständige Umsetzung des Abkommens“ auffällig. Dies deutet darauf hin, dass die Türkei hinsichtlich des Abkommens die Rolle des Spielverderbers übernimmt. Die Propaganda, der Druck und die Drohungen des faschistischen Devlet Bahçeli (Parteivorsitzender der MHP), dass die SDF auf Basis des Aufrufs des kurdischen Volksführers Abdullah Öcalan die Waffen niederlegen müsse, wurden durch dieses Abkommen zunichtegemacht.

Sowohl die Abrechnung mit dem alawitischen Massaker in Syrien als auch die praktische Umsetzung und Weiterentwicklung des Abkommens zwischen der SDF und der Syrischen Übergangsregierung zugunsten der revolutionären demokratischen Kräfte sowie die Erfüllung der Forderungen des Aufrufs von Abdullah Öcalan zu „Frieden und einer demokratischen Gesellschaft“ erfordern vor allem, dass sich die revolutionären Sozialisten mit all ihren Kräften und Möglichkeiten dafür einsetzen, die Kämpfe der türkischen Arbeiter:innen und Unterdrückten zu stärken.

Ein Ende des Massakers an den Alawit:innen in Syrien, alle verantwortlichen Führer und Kommandeure vor internationale Gerichte! Die faschistische kolonialistische Verwaltung von Tayyip Erdoğan muss sofort einen Waffenstillstand ausrufen! Abdullah Öcalan und die politischen Gefangenen müssen freigelassen werden, die kolonialistischen Angriffe gestoppt werden! Die Besatzung von Rojava und Başûr muss beendet werden! Die nationale Existenz der Kurden und das Recht auf Unterricht in der Mutterprache müssen verfassungsrechtlich und gesetzlich anerkannt werden! Das faschistische kolonialistische Antiterrorgesetz muss aufgehoben werden!“ – Mit solchen dringenden, konkreten Forderungen ist es an der Zeit, dass alle antifaschistischen Kräfte sich vereinen, in Aktion treten und die Initiative ergreifen!