Vor zwei Monaten unterschrieben der neue syrische Präsident Ahmed al-Scharaa und der Kommandant der Syrisch Demokratischen Kräfte, Mazlum Abdî, ein historisches Abkommen über die Zukunft Syriens. In ihm wurden grundlegende, jedoch äußerst vage Positionen formuliert, wie ein vereintes Syrien gemeinsam aufgebaut werden kann. Zu jedem der Punkte wurde eine Kommission mit Vertretern beider Seiten gegründet, die sich mit der Konkretisierung und Umsetzung der Ziele beschäftigt. Insgesamt wurde für die Umsetzung des Abkommens ein Zeitraum von einem Jahr festgelegt.
Nun, zwei Monate nach der Unterzeichnung, wollen wir einen Blick auf die Entwicklungen in diesem Prozess werfen.
Tişrîn-Damm
Unmittelbar nach dem Beginn der HTS (Hay’at Tahrir al-Sham) Offensive auf Aleppo, welche schlussendlich im Sturz des Assad Regimes endete, rückten türkische Söldner der SNA (Syrisch Nationale Armee) ein weiteres Mal auf die Selbstverwaltung vor. Sie erzielten dabei zu Beginn auch militärische Erfolge – so wurden sowohl der Kanton Efrîn-Şehba als auch die strategische Stadt Minbic erobert. An beiden Orten begingen der türkische Staat und seine Söldner schwerwiegende Kriegsverbrechen. Nach der Eroberung von Minbic plante die SNA, den Euphrat zu überqueren und ihren Feldzug fortzusetzen.
Hier wurden sie jedoch von den Kämpfer:innen der SDF gestoppt und es gelang ihnen trotz massiver türkischer Luftunterstützung 117 Tage lang nicht den Damm zu überqueren oder überhaupt nur einen Fuß auf ihn zu setzen.
Am 13. April kamen die Selbstverwaltung und der syrische Staat zu einer Einigung über die Zukunft des Staudamms, der für ganz Syrien von extremer strategischer Bedeutung ist. Der Damm wird jetzt gemeinsam von der Selbstverwaltung und dem syrischen Staat kontrolliert. Die Militärpräsenz rund um den Staudamm soll drastisch reduziert werden. Die Truppen der SNA müssen vollständig von der Westseite des Euphrats abziehen und werden durch Soldaten des syrischen Staates ersetzt. Die SDF-Kämpfer:innen an der Ostseite des Euphrats sollen hingegen durch Einheiten der Inneren Sicherheitskräfte der Selbstverwaltung (Asayîş) ausgetauscht werden. Das Personal bleibt das alte Personal der Selbstverwaltung.
Seit dieser Einigung kam es zu keinen weiteren Angriffen auf den Tişrîn-Damm mehr und die Reparaturarbeiten der Anlage, die seit dem 10. Dezember durch türkische Luftangriffe nicht mehr funktionstüchtig ist, haben begonnen. Auch wenn bis zur Wiederherstellung der vollen Funktionsfähigkeit noch viele Monate vergehen werden, wurden bereits jetzt Erfolge erzielt. So konnten die Stadt Kobanê und ihr Umland erstmals seit 4 Monaten wieder mit Strom versorgt werden.
Die Außenbeauftragte der Selbstverwaltung – Ilham Ehmed – bezeichnete die Einigung als „konkreten Schritt hin zur Umsetzung der in Damaskus initiierten Vereinbarungen“.
Aleppo
Die mehrheitlich von Kurd:innen bewohnten und von der Selbstverwaltung kontrollierten Stadtteile Aleppos, Şêx Maqsûd und Eşrefiyê, standen seit der HTS Offensive ebenfalls im Mittelpunkt der Spannungen. Zu Beginn der Angriffe errichtete die SDF einen Korridor zwischen Aleppo und dem Rest der Selbstverwaltung, über den innerhalb kürzester Zeit zahlreiche SDF-Kämpfer:innen in die Stadt gelangten. Dieser Korridor brach wenige Tage später allerdings wieder zusammen.
Ab diesem Punkt herrschte ein zerbrechlicher Waffenstillstand in Aleppo, in dem die kurdischen Bezirke hoch militarisiert und abgeriegelt von der restlichen Stadt waren. Erst am ersten April schlossen beide Seiten ein Abkommen, welches unter anderem die Arbeit der Autonomen Räte sicherstellt, allerdings auch die Selbstverwaltung dazu zwang, alle militärischen Einheiten aus der Stadt abzuziehen. Die Asayîş bleiben in der Stadt präsent und andere bewaffnete Gruppen, auch die HTS, dürfen die kurdischen Stadtteile nicht betreten.
Die SDF hat sich bereits vollständig aus der Stadt zurückgezogen und zahlreichen Checkpoint und Stützpunkte von beiden Seiten wurden abgebaut und durch vereinzelte, gemeinsam verwaltete Checkpoints ersetzt. So können sich die Bewohner:innen Aleppos erstmals seit Jahren wieder weitgehend frei in ihrer eigenen Stadt bewegen.
Auch wenn die genauen Auswirkungen des Aleppo-Abkommens sich gerade erst beginnen zu entwickeln, liegt die Vermutung nahe, dass die Geschehnisse in Aleppo wegweisend für den Dialog zwischen der Selbstverwaltung und dem syrischen Staat sein werden.
Afrin
Ein zentraler Punkt des Abkommens war die Rückkehr aller Vertriebener in ihre Heimatstädten. Im Fokus steht dabei die 2018 durch die türkische Armee und ihre Söldner brutal besetzte Stadt Afrin, aus der ein Großteil der ursprünglich kurdischen Bevölkerung vertrieben wurde.
Mittlerweile soll ein Großteil der SNA Milizionäre aus der Stadt abgezogen sein und die Stadt wird so gut wie vollständig von der neuen syrischen Regierung kontrolliert. Laut der KDP (Demokratische Partei Kurdistans) nahen Nachrichtenagentur “Rudaw” sind zahlreiche Kurd:innen bereits in die Stadt zurückgekehrt. Dabei stützen sie sich auf die Aussage eines Vertreters der ENKS, die als syrischer Ableger der KDP fungiert. Die ENKS durfte auch während der Besatzung weiterhin in Afrin präsent sein.
Medien, die der kurdischen Freiheitsbewegung nahestehen, wie ANF News und ANHA, widersprechen dieser Darstellung. Eine großflächige Rückkehr nach Afrin sei noch nicht möglich. Die syrische Zentralregierung hat sich noch nicht öffentlich dazu geäußert.
Risse zeigen sich
Auch wenn es erste Entwicklung in den Bemühungen für ein neues, stabiles Syrien gibt, zeigen sich jedoch auch klar und deutlich die Risse zwischen den beiden Verhandlungspartnern. So verurteilte der syrische Übergangspräsident die kurdische Einheitskonferenz, die vor kurzem stattfand und behauptete diese würde dem Abkommen widersprechen.
Die Selbstverwaltung wiederum verurteilte die Ernennung von Al-Hayes. den sie als Kriegsverbrecher sehen, zum Divisionskommandeur der neuen syrischen Armee. Ende März verurteilte die Selbstverwaltung außerdem die neu gebildete Syrische Regierung aufs schärfste und machte sogar klar,dass die Entscheidungen einer solchen, in ihren Augen illegitimen, Regierung für die Selbstverwaltung nicht bindend seien.
Das Abkommen zwischen dem syrischen Staat und der Selbstverwaltung war der Beginn und nicht das Ende eines Prozesses. Dieser Prozess läuft weiterhin und beide Seiten versuchen, ihre Positionen durchzusetzen. Es ist die Aufgabe der Solidaritätsbewegung hier in Europa, diesen Prozess intensiv zu verfolgen und dafür einzustehen, dass die Seite der Selbstverwaltung in diesem Prozess gestärkt wird.